Alle Beiträge von swm7p9

Ein neues vielversprechendes Konzept von Elternschaft

Väter, Mütter und ihre Elternschaft sind zu einem Epizentrum öffentlicher Debattenbeben geworden, wofür beispielsweise der aktuelle Familienbericht mit seinen prallen 900 Seiten Fließtext steht. Ihr Handeln wird kritisch beäugt, ihnen wird angetragen, immer noch mehr zu tun und am liebsten würden man pauschal alle zum Elterntraining schicken. Und warum? Damit die Kinder möglichst früh ein breites Kompetenzspektrum entwickeln können – sprachlich, mathematisch, sozio-emotional – und so von frühen Beinchen an getrimmt auf ihre Rollen als brave spätmoderne leistungsfähige Arbeiter auf einem hochvolatilen Arbeitsmarkt und als treue Beitragszahler der Sozialversicherungen. Die neue Kindheitsforschung hat immerhin den Blick darauf gelenkt, dass es nicht darum alleine geht, sondern dass Eltern sich vor allem am Wohlbefinden zu orientieren haben. So oder so: Eltern sind in die Pflicht gestellt, Aufgaben zu erfüllen, damit sich gesellschaftlich gewünschte Produkte, Entwicklungen und Gefühlszustände bei den Kids einstellen. In zwei Aufsätzen der renommierten Fachzeitschrift Journal of Family Studies wird diese Instrumentalisierung der Elternschaft kritisch demontiert und es wird, vorweggenommen, eine überzeugende Alternative entwickelt:

Esther Dermott und Tim Fowler aus Bristol schreiben: Wir müssen weg von sogenannten „teleologischen“ (nicht zu verwechseln mit: theologisch!) Elternkonzepten, also solchen Zweckzuschreibungen, wie ich sie oben ausgeführt habe: Kompetenzen und Wohlbefinden der Kurzen zu boosten. Dass dieses Konzept tatsächlich auch verbreitet ist, belegen Studien aus zahlreichen Ländern zur sogenannten intensiven Elternschaft: Eltern reißen sich die letzten Haare aus, um es ihren Kindern gut gehen zu lassen, mobilisieren eigene und fremde Kräfte und sind mittlerweile mit einem ausgreifenden Elternpflichtportfolio ohne Ende unter Druck. Zu einer Alternative dazu kommen wir gleich, ein bisschen Geduld.

Zuerst zum zweiten Aufsatz, der sich dem „Regretting Parenthood“, also dem persönlichen Bedauern, Kinder in die Welt gesetzt zu haben, widmet. Pionierin in diesem Forschungsgebiet war die britische Soziologin Donath, die als Erste Interviews mit Müttern führte, die das soziale Tabu brachen und sagten, Nee, das mit dem Kinderkriegen war ein großer Fehler. Hier und an weiter nachfolgende Detailstudien knüpft Maja Bodin, eine schwedische Forscherin an. Sie hat Onlineforen untersucht und aus diesen die Aussagen und Argumente zu bedauerter Elternschaft zusammengepflückt, und zwar von Müttern und von Vätern. Hintergrund der Studie ist die plausible These, dass sich Schweden bezüglich des Elternseins aufgrund der großen Geschlechteregalität und des ausgebauten Wohlfahrtsstaates positiv darstellen sollte. Vorweggenommen, genau das Gegenteil ist der Fall, hier sind die Eltern scheinbar noch mehr unter Druck. Der eigentliche Kern der Auswertungen sind aber die Motive, welche die enttäuschten Eltern angeben: Und die waren komplex, genauso, wie die enttäuschten Gefühle artikuliert wurden. Unisono wurde das eigene Bedauern der Elternschaft als beschämend, lausig, ekelhaft, also als nicht-normal beschrieben. Was für Themen, Anlässe des Bedauerns finden sich nun? Einige bedauern schon alleine die Entscheidung überhaupt, ein Kind in die Welt zu setzen, als grundfalsch, man sei zum Beispiel gar nicht reif dafür gewesen. Mütter sind ganz klar insgesamt stärker vertreten in der Lamentoparade in den Onlineforen, Mütter sehen sich zum Kinderkriegen durch die Gesellschaft gezwungen gewesen, Väter hingegen durch ihre je individuellen Partnerinnen quasi genötigt.

Einige Väter wie Mütter nehmen wahr, dass die Erziehung und Pflege der Kinder sie von weiterer Bildung abgehalten habe, wegen fehlender Ressourcen und Energie und Zeit. Ebensolches gilt für einen neuen Job.

Besonders Mütter fühlen sich überdies, als ob sie durch ihre Kinder in eine Falle getappt wären. Sie oszillieren dabei zwischen Selbstvorwürfen und Scham im Vergleich zu „erfolgreicheren“ Müttern, aber sie zeigen Ansätze der Kritik an herrschenden sozialen Normen, die das so provozieren. Negative Gefühle gegenüber dem Muttersein in seiner jetzigen Form können also auch als Widerstand gegen die vorgeschriebene happy mom- Matrize gelesen werden. Manche der OnlinebeiträgerInnen scheinen gar die Onlineplattformen zu frequentieren, um andere Frauen vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren. Was körperliche Aspekte des Kindekriegens angeht, schildern die Mütter die hohe Anforderung an sie, sich sofort nach der Geburt wieder sexy, körperlich fit und begehrenswert präsentieren zu müssen.

Zurück zu den Vorstellungen über Elternschaft, die ja auch gegen ein solches Regretting, Enttäuschung über das Kinderhaben helfen könnten. Wir erinnern uns: das konventionelle Elternkonzept verlangt, dass man sich als Eltern im Dienste des gesellschaftlichen Nutzwert der Kinder bis an die Kante verausgabt, bis hin zum elterlichen Burnout, das etwa 5 Prozent der europäischen Eltern ereilt. Esther Dermott und Tim Fowler greifen nun auf eine alternative Lesart der Elternschaft zurück, indem sie auf eine Beziehungssicht als Grundeinheit des Sozialen zurückgreifen: Eltern-Kind-Beziehungen sind so gerahmt wie Freundschaften ohne Rekurs auf äußere Zwecke intrinsisch, also in sich, als solche wertvoll, und nur um ihrer selbst Willen also zu pflegen. Eine Beziehung ist das, wiederum, wie eine Freundschaft, in der man sich gegenseitig bedingungslos wertschätzt und wohlfühlt. Kinder und Eltern sind sich als solche wichtig! Da drängt sich dann die Frage auf: Wenn der Staat jetzt noch eine Rolle spielt, eben nicht als Wächter der Kompetenzklatsche in den Familien, was „darf“ er dann tun? Richtig: Er „darf“, monetär, zeitlich, infrastrukturell, die Rahmenbedingungen für die ungestörte Eltern-Kind-Beziehung pflegen Das überzeugt doch!

Quellen:
Maja Bodin (2023) Regretting parenthood in a family friendly, ‚gender equal‘ society: accounts from Swedish online forums. OURNAL OF FAMILY STUDIES, 29, 5, 2195-2212

Esther Dermotta and Tim Fowler (2023). JOURNAL OF FAMILY STUDIES, Routledge, https://doi.org/10.1080/13229400.2023,2291029

Socischreibsel – der Blog!

Die Nullnummer und die Motivation hinter dem Blog

Neben dem Podcast Socitalk von Andreas Lange von der Fakultät für Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege wird es ergänzend und zeitnäher in Zukunft in unregelmäßigen Abständen das „Socischreibsel“ geben.

Das ist ein Blog zu neuen sozialwissenschaftlichen, insbesondere soziologischen Erkenntnissen, Theorien und Befunden zu Familie, Kindheit, Gesellschaft und angrenzenden Gebieten geben. Aufnahmekriterium für Studien und Berichte ins Socioschreibsel sind Originalität, Kuriosität, Staunenmachenpotenzial. Man wird sehen, dass Soziologie alles andere als eine komplizierte weltferne überakademisierte Denkübung darstellt, sondern mitten im Alltagsstrom navigiert, ihre Fühler am Puls der Zeit hat und etliche Wissenspreziosen frei Haus liefert.

Es werden jeweils 1 bis 2 Nachrichten aus den einschlägigen Publikationsorganen aufgegriffen und eingeordnet.

Socischreibsel 1: Schön Sein macht aaaaahhhhhh

Mein heutiger morgendlicher Body- und Facescan vor dem Spiegel hat mich erfreut, denn schöne Menschen haben Vorteile, die mit ihrem ästhetischen Äußeren einhergeht. Die Forschung spricht von physischer Attraktivität, die beispielsweise durch die mehrfache Beurteilung von Fotografien auf einer Attraktivitätsskala mit einer hohen Übereinstimmung der Ratings gemessen wird. Nun haben die SchönheitssoziologInnen immer wieder gezeigt, dass es ein „beauty is good“- Vorurteil gibt. Als schön eingeschätzte Frauen und Männer gelten als fleißiger, kompetenter, vertrauenswürdiger moralisch besser, im Vergleich mit weniger schönen. Wir wissen zudem aus zahlreichen Studien, dass Schönheit jeweils historisch-kulturell variiert – und unsere Spätmoderne zeichnet sich dadurch aus, dass Menschen bereit sind, ganz schön viel für die Definiertheit und Strahlkraft ihres Körpers zu investieren. Wir sprechen, weil das harte Arbeit ist, vom Doing beauty. Diese Ornamentik umschließt ein ganzes Bündel von Doings. Angefangen von den vielen Pülverchen, die wir runterkippen über die Cremes und Wässerchen, die wir uns in die diversen Gesichtspartien applizieren, dem Malen nach Zahlen über die sportlichen Exegesen bis hin zu den ultimativen Allzweckwaffen der für die ÄrztInnen höchst lukrativen plastischen Chirurgie. Und der Knaller ist, das hat die Soziologin Nina Degele schon vor etlichen Jahren herausgefunden: Wir täuschen uns selbst ganz „schön“. Wir geben nicht so gerne zu, dass dieses Sich-Schön-Machen auch was mit den anderen Menschen um uns rum zu tun hat, sondern wir schieben eine Welle von Selbstverleugnung vor uns hin: Wir machen das ja nur für uns selbst………Authentizitätsfiktion könnte man das nennen…

Nun hat eine Studie, publiziert in der aktuellen Ausgabe der renommierten Kölner Zeitschrift für Soziologie ans Tageslicht gefördert, die AbiturientInnen seit dem 16. Lebensjahr wiederholt bis ins Erwachsenenalter befragt hat: Schönheit hat über 30 Jahre hinweg, auch unter statistischer Kontrolle möglicher verzerrender Faktoren, einen signifikant positiven Effekt auf die Lebenszufriedenheit. Wow, ich merke schon, wie mein Serotonin und mein Testosteron anspringen – also weiter dran bleiben mit den Schönheitswundermitteln und morgens den inneren Schweinehund abmurksen und sich trimmen, es lohnt sich, denn wer will nicht zufrieden sein wie Bolle? Der Artikel ist aber auch deshalb lesenswert, weil er die unterschiedlichen Mechanismen auflistet, die hinter der Schönheitsdividende stecken könnten:   Da gibt es erstens den Attraktivitätsaufmerksamkeitseffekt, d.h. es ziehen attraktive Menschen die Aufmerksamkeit ihrer Umwelt stärker auf sich als ihre weniger ansehnlichen Zeitgenossen, werden daher eher wahrgenommen. Ihnen wird mit mehr Respekt und Vertrauen begegnet, zudem wird stärker auf ihre Bedürfnisse geachtet, wodurch sie durch Bekannte, Freunde sowie durch Fremde eher, häufiger und mehr Unterstützung erhalten. Weil attraktive Menschen als intelligenter, fleißiger, kompetenter, zielstrebiger, zuverlässiger und leistungsfähiger sowie als empathischer, sozial verträglicher, sympathischer und ehrlicher gelten, werden ihnen Fehler und abweichendes Verhalten auch eher nachgesehen. Tolle Wettbewerbsvorteile, oder? In beruflichen und ausbildungsbezogenen Zusammenhang heißt dies ihre Leistungen eher wahrgenommen werden, stärker im Gedächtnis bleiben und besser beurteilt werden. Das alles würde wohl kaum jemand in einem persönlichen Interview wegen der sozialen Erwünschtheit, in diesem Fall, sozialer Unerwünschtheit, offen zugeben. Aber Soziologen sind, so Norbert Elias (1971), eben Mythenjäger. Und wie der polnische Soziologe Zygmunt Bauman (2000) formuliert: Soziologie irritiert, stellt Fragen. Und zeigt, dass Sachverhalte, die wir als gegeben ansehen, auch ganz anders sein können. Kontingenz ist das vornehme Wort dafür. Das darf an für Schönheit auch mal durchdenken ….

Quellen:

Baumann, Zygmunt (2000). Vom Nutzen der Soziologie. Frankfurt: Soziologie

Elias, Norbert (1971). Was ist Soziologie? Weinheim: Juventa.

Degele, Nina (2004). Sich schön machen. Zur Soziologie von Geschlecht und Schönheitshandeln. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Ulrich Rosar/Roman Althanse/Johannes Krause (2023). Physische Attraktivität und Lebenszufriedenheit. Eine empirische Untersuchung auf der Grundlage der fünf Wellen des Kölner Gymnasiasten-Panels 1969 bis 2019. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 75, 4, 419-449.